Zur dissonanten Rezeptionsgeschichte seiner Werke siehe:
Hartmut Vinçon: Ein Weltdichter - Frank Wedekind. 24.7.1864-9.3.1918. In: Freunde der Monacensia e. V. – Jahrbuch 2018, hg. v. Waldemar Fromm, Wolfgang Göbel u. Kristina Kargl. München 2018, S. 64-96.
"Sie konnten diesen Gaukler nicht begraben", so lautet der Schluss des Vierzeilers, den Bertolt Brecht am 20. April 1918 notierte. Am 1. Januar, als Wedekind sein Antikriegsdrama "Herakles" in der Münchner Kleinbühne "Bonbonniere" vorlas, war Brecht anwesend gewesen und tief beeindruckt. Betroffen schrieb er in den "Augsburger Neuesten Nachrichten" (12.3.): "Bevor ich nicht gesehen habe, wie man ihn begräbt, kann ich seinen Tod nicht erfassen", und war zur Begräbnisfeier am 12. März nach München gefahren. Der plötzliche Tod Wedekinds mit 53 Jahren erschütterte viele Zeitgenossen. Unter riesiger Beteiligung, prominent war die Schriftsteller- und Theaterwelt vertreten, wurde Wedekind auf dem Münchner Waldfriedhof zu Grabe getragen. Die Trauerfeier dauerte gut zwei Stunden. Trauerreden hielten Freunde Wedekinds: Joachim Friedenthal, Max Halbe, Heinrich Mann und Kurt Martens. Der Dichterkollege und Filmdramaturg Heinrich Lautensack ließ die Begräbnisszene filmen.
Im Rückblick auf die mit viel unheiligem Pathos inszenierte imposante Feier äußerte sich Brecht in seinem Vierzeiler kritisch: "Sie standen ratlos in Zylinderhüten / wie um ein Geieraas. Verstörte Raben." In den späteren Nachrufen, in gefestigter Gemütsverfassung und in vorgeblich treuer Erinnerung an ein Begräbnisschauspiel, ja an ein Spektakel, suchten die Zeitgenossen Wedekind als Dichter gerecht zu werden. Wedekind als Gaukler – als ein täuschender Zauberkünstler, welcher der Bürgerwelt einen blitzenden Spiegel vorhält – oder als eine geistige Größe, die, eigenwillig, "sich nie innerhalb der Formen unserer Welt gefügt" hat. An Stefan Zweigs bereits 1914 gefälltes Urteil lässt sich ein späteres Wort Heinrich Manns über Wedekind als Theaterautor anschließen, wenn er von dessen "geschriebenen Sätzen" spricht, die sich "als lebendes Wort in die Seele graben" (1923). Schweigen wir von den reaktionären Hetzern, die Wedekind einst als Skandalautor denunzierten.
Heute können wir eines der größten deutschen Theaterautoren des 20. Jahrhunderts gedenken. Fest im kulturellen Gedächtnis sind seine Kindertragödie "Frühlings Erwachen", sein Schauspiel "Der Marquis von Keith" und die "Lulu"-Tragödie verankert. Von Meisterwerken sprachen bereits die Zeitgenossen, die sich unter dem Leitwort "Moderne" für eine Erneuerung der Literatur und der Künste engagierten. In herzergreifenden Bildern erzählt in lockerer Szenenfolge der ‚Roman‘ "Frühlings Erwachen" von den Krisen der Adoleszenz, als Tragödie adressiert an die so oft um Verständnis verlegene Erwachsenenwelt. Von der Leidenschaft und Schönheit des Eros und des Missbrauchs alles Lebendigen handelt die Rede von "Lulu". Dramatisch hoch aufgeladene Dialoge, Berichte und Beobachtungen aus der Welt der Bourgeoisie und der sie komplettierenden Halbwelt, bestimmen die Handlung von Station zu Station, fünf Akte in harten Schnitten aneinander gereiht. Es scheitert, so Wedekind, "das menschlich Bewußte", das sich "unter allen Umständen immer so maßlos überschätzt, am menschlich Unbewußten". Die Verquickung von Kunst und Kommerz thematisiert der von Phrasen und Sentenzen durchsetzte "Marquis von Keith, die Kunst- und Kulturindustrie in ihrer hektischen Betriebsamkeit und klassenspezifischen Selbstinszenierung entlarvend. Zum geflügelten Wort wurde: "Das Leben ist eine Rutschbahn."
Wedekind ist, so wusste es der scharfsinnige Kritiker Karl Kraus, der "erste deutsche Dramatiker, der wieder dem Gedanken den langentbehrten Zutritt auf das Theater verschafft hat." (1905) Als Künstler gehörte Wedekind, wie Brecht für das 20. Jahrhundert sagte, "mit Tolstoi und Strindberg zu den großen Erziehern des neuen Europas." (1918) Wir erinnern zum Todestag am 9. März 2018 an einen Autor, der auf der großen Bühne wie auch auf der des Kabaretts sich für eine Revolutionierung in Kunst und Gesellschaft einsetzte. Diese Leidenschaftlichkeit lebt in seinen Werken. Große Kunst ist, cum grano salis verstanden, unsterblich. Ihrer bedarf auch ein Europa des 21. Jahrhunderts dringender denn je.
Literaturhinweis:
Ariane Martin: "Sie konnten diesen Gaukler nicht begraben." Zum 100. Todestag Frank Wedekinds (1864-1918). Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge, Bd. 28, 2018, H. 1, S. 102-111.
Frank Wedekind (1864-1918) zählt wie kein anderer zu den bahnbrechenden Autoren der literarischen Moderne. Seine bisher erst in Ausschnitten publizierte Korrespondenz zeigt ihn prominent vernetzt mit der europäischen literarischen Avantgarde. Die vollständige digitale Edition dieser Korrespondenz erweitert substantiell das Wissen über die Kultur zwischen 1880 und 1918.