Lulu. Dramatische Dichtung in zwei Teilen
Erster Teil: Erdgeist. Tragödie in vier Aufzügen (1903)
„Die Heldin Lulu ist ein weibliches Wesen, dem gegenüber die Cameliendame eine fromme Betschwester ist. Leonie Taliansky hat diesmal den Vogel abgeschossen, sie war so verführerisch, wie es der Autor nur wünschen konnte, der sie mit allen möglichen bestechenden Toiletten erscheinen läßt. Den Ton einer grenzenlosen Frivolität, die mit Allem ihr Spiel treibt und welcher erst der Athem ausgeht, als sie die Justiz beim Kragen packt, traf sie aufs Beste; auch die Eitelkeit, die mit ihrer nichtsachtenden Blasirtheit Hand in Hand geht, stellte sie glaubwürdig dar. Die beiden großen Scenen mit Dr. Schön, die erste, in welcher sie ihn zum Verzicht auf seine Braut zwingt, und die leidenschaftliche Scene im letzten Act, spielte sie nicht ohne dramatische Kraft, und fast immer blieb sie die sonnig lächelnde Buhlerin. Herr Kammerer (Frank Wedekind) als Dr. Schön suchte als Darsteller das möglichst zu ergänzen, was er als Dichter ausreichend zu motiviren versäumt hat: die psychologischen Vorgänge bei den nicht ganz erklärten Experimenten Schön's mit seiner Lulu. Die beiden Hauptrollen ernteten den lebhaftesten Beifall [...].“
(Rudolf von Gottschall: Literarische Gesellschaft. Leipziger Tageblatt, 27.2.1898)
Zur Uraufführung durch das Ibsen-Theater im Krystallpalast, Leipzig, 25.2.1898. Regie: Carl Heine.
„Messerscharf gleitet das Stück, das nur auf einer so intimen Bühne wie der des ‚Kleinen Theaters‘ und vor einem verständnisvollen Publikum litterarischer Gourmets möglich ist, an der Gefahr der unfreiwilligen Komik, des Verhöhnt- und Ausgepfiffenwerdens vorüber. Es ist in erster Linie dem grandiosen Spiel Gertrud Eysoldts zu danken, daß die Zuhörerschaft [...] geradezu leidenschaftlichen Beifall spendete. Frau Eysoldt hat ihrer Salome ein würdiges Gegenstück zugesellt. Sie war, in hundert Farben schillernd, ganz die faszinierende Verkörperung der Mignon, Lulu und Eva, das ungezogene Kind, die launische Despotin, die perverse Buhlerin und die lockende Tanzmänade in einer Person. Emanuel Reicher als Dr. Schön hatte einzelne große Momente und wußte den gefährlichen Schluß vor jedem Umschlagen aus dem Tragikomischen ins Burlesk-Komische geschickt zu bewahren.‘
(Heinrich Stümcke: Von den Berliner Theatern 1902/03. Bühne und Welt 5, 1902/03, S. 300)
Zur Inszenierung am Kleinen Theater, Berlin, 17.12.1902. Regie: Richard Vallentin.
„Diesen namenlosen, wesenlosen, englischen Satan gibt die Eysoldt mit einer Energie der Darstellung, die bisweilen fast schmerzlich wirkt, so fast körperlich und stechend nahe spüren wir sie an uns herandringen. Eine extreme Geistigkeit, die jeden kaum aufzuckenden halben Gedanken noch zu erhaschen weiß, verbindet sich mit einer Vitalität, vor der wir erschrecken, indem wir doch ihrem bösen sinnlichen Zauber erliegen. Eine Stimme von einer wilden und tückisch schleichenden Zärtlichkeit, eine Verwegenheit der bald kindischen, bald äffischen, immer ruchlosen Gebärden, die immer wieder an Beardsley erinnern, und eine Beredsamkeit des Körpers, die wir an keiner anderen deutschen Schauspielerin kennen, eine Beredsamkeit für das rein Cerebrale und bis zum tief Bestialischen ergeben eine Wirkung, für die wirklich kein Wort der Bewunderung zu stark ist.“
(Hermann Bahr: Der Erdgeist. (Gastspiel "Kleines Theater", 22.6.1903). In: Ders., Glossen zum Wiener Theater (1903-1906). Berlin 1907, S. 261f.)
Zum Gastspiel des Kleinen Theaters Berlin am Deutschen Volkstheater, Wien, 22.6.1903. Regie: Richard Vallentin.
„ [...] Frau Wedekind ist keine Eysoldt; sie ist für die glitzernde Bestie Lulu zu normal, zu bürgerlich, zu weich. Sie lächelt, wo sie lauern sollte, und niemals wagen sich die Krallen aus den Samtpfötchen dieses allzu feinen und süßen Hauskätzchens hervor. In Ihren Augen zwar sprüht manchmal ein gefährlich scheinender Funke; aber er zündet nicht, sengt nicht einmal - ein richtiger Theaterfunke! [...] Der Dr. Schön des Herrn Wedekind hat vor jenem Reichers vielleicht sogar etwas voraus: die größte Schlichtheit und Natürlichkeit nämlich. Reicher spielte eine ‚Bomben‘rolle mit raffiniertester Ausnützung aller erdenklichen Trics. Wedekind gibt einen Menschen (von seinem Blute natürlich) und nur eben mit soviel schauspielerischen Zutaten, als nötig ist, um ihn im Bühnenlicht lebendig erscheinen zu lassen.“
(Richard Braungart: Schauspielhaus. Münchener Zeitung, 16.7.1906)
Zur Inszenierung am Schauspielhaus, München, 14.7.1906. Leitung: Georg Stollberg.
„ [...] die Lulu von Frau Tilly Wedekind wurde zur reinsten, tiefsten, innerlichsten Offenbarung, die weiter auch noch als Gertrud Eysoldts Darstellung des Erdgeistes führte. [...] Die Lulu Tilly Wedekinds führte gerade an den Punkt hin, in das Allerheiligste des Wedekindschen Erdgeist-Empfindens, wo die ganz und gar seelenlose Lulu und das ganz und gar seelische Käthchen als das + und - vor uns stehen, als die Gegenpole derselben Natur, die ganz unmittelbar ineinander überschlagen können. In der ergreifenden Einfachheit, die alles Schauspielerisch-Theatralische ausgetilgt hatte, in der köstlich-intuitiven Naivität, mit der die Darstellerin die völlig noch unbewußte Lulu-Natur verkörperte, das erkenntnislose Wesen vor und jenseits von Gut und Böse, mehr noch des Adams erstes Weib, die Lilith, als die Eva - kam das tiefste tragische Empfinden und Gefühl des Werkes ganz rein und makellos zum Ausdruck.
Die Kunst war in der Gestalt Tilly Wedekinds allerinnerlichstes Erlebnis nur. Als seelenlose, bewußtlose Nachtwandlerin ging sie vorüber, und wie eine Vision nur lag auch das Gefühl über ihr: Du hättest mich lieben sollen. Die ganze Aufführung überhaupt eine Meisterleistung.“
(Julius Hart: Wedekind-Spiele im Deutschen Theater. Der Tag (Berlin), 12.6.1912)
Zur Inszenierung am Deutschen Theater, Berlin, 10.6.1912. Leitung: Frank Wedekind.
„Frau Eysoldts Lulu ist ein Produkt vollendeter Kunstfertigkeit. Man sah eine schauspielerische Aufgabe und sah deren tadellose, interessante, sauberste Erledigung. Eine Meisterin aller kleinen und großen Techniken, Listen und Subtilitäten der Verstellungskunst spielte uns die Lulu vor. Ja, gewiß, so ist sie zu spielen und nicht anders. Jedes Detail funkelte von Berechtigung, da zu sein; jede Bewegung, jedes Lächeln, jeder Blick 'saß' wie tausend Mal anprobiert; jeder Tonfall trug nuance-getreu die Farbe des dramatischen Augenblicks. Leider hatte all diese Vollkommenheit einen trockenen, kühlen Zug, der recht konservierend auf den Gleichmut der Zuhörer wirkte. Diese Trockenheit, diese Kühle stammten aus dem großen Wissen um die Dinge, das die Kunst der Frau Eysoldt adelt; und überall am Platze sein mag, nur nicht in der Darstellung des Unbewußten. [...] In Frau Eysoldts Darstellung sah man die Funktionen, die amoralischen, kindlichen, verantwortungslosen Funktionen der Lulu meisterlich nachgeahmt. Die Lulu selbst sah man keinen Augenblick. Man sah eine hungrige Menschenfresserin, der man weder den Appetit glaubte, noch daß Menschenfleisch die ihr organische Nahrung sei. Man sah klarste Gehirntätigkeit als Instinkt verkleidet. Man sah ein Elementarereignis, das in einem technischen Laboratorium zubereitet schien. Man sah eine durch und durch raffinierte Ahnungslosigkeit. Aber es war auch so sehr schön.“
(Alfed Polgar: Die Eysoldt in Wien. Die Schaubühne 9, 1913, Bd. 1, S. 174)
Zur Inszenierung an der Neuen Bühne, Wien, 23.1.1913. Regie: Emil Geyer.
„Nun hat‘s die Orska übertroffen [...], denn sie ist eine ungleich gewandtere Schauspielerin als die Frau Wedekind, und wir werden in Zukunft sie als Lulu denken müssen... Nicht nur der Maske wegen [...]; sie gab auch mehr im Spiel, ließ unter der äußeren Kälte heißere Gluten ahnen, war tierhafter und eindeutiger in ihren Lüsten und Begierden, schamloser in jeder Bewegung und dann doch wieder von einer kindlichen Unschuld, die die reifere Erscheinung Tilly Wedekinds nie vorzutäuschen vermochte. Vielleicht ging dieses Zurschaustellen des Körpers zu weit, kokettierte sie mit ihrem Nichtwissen um das, was gut und böse ist, zu sehr, als daß wir der durch soviel Hände Gegangenen die seelische Unberührtheit (dies nicht im alltäglichen Sinne) hätten glauben können. Aber ihr gelang doch, was der Frau Wedekinds, dieser ihrem Manne seelisch so völlig hingegegebenen Frau, trotz all ihrer beinahe an Prostitution grenzenden Hingabe an das Werk als solches nie gelungen ist: die Lulu über das Persönliche hinwegzuheben und zu einem Begriff werden zu lassen, dem strindberg-wedekindschen Begriff des schönen Weibtiers [...].
Rudolf Bernauer hatte für eine szenische Einrichtung gesorgt, wie sie so von Luxus aller Art überschüttet für Wedekind wohl noch nie aufgebaut worden ist. Auch darin war die Aufführung wertvoll und neu.“
(Ludwig Sternaux: Theater in der Königgrätzer Straße. "Erdgeist". Tägliche Rundschau (Berlin), 5.11.1916)
Zur Inszenierung am Theater in der Königgrätzerstraße, Berlin, 4.11.1916. Regie: Rudolf Bernauer.
„Sie grätscht die Beine. Sie räkelt sich auf den verschiedenen Sofas ihrer Karriere [...], auch wenn sie allein ist, vor den Männern im Publikum dergestalt, daß - daß der Wunsch entsteht, die Theaterzensur nicht auf den Text der Stücke beschränkt zu sehen. [...] Aus der Ahnungslosigkeit eines triebhaften Kindes, das schneeweiß durch sämtliche Laster schreitet, wird die freche Schamlosigkeit einer Routiniere der Liebe. Die Herrenwelt in den Logen trieft. Die Damenwelt ist teils Neid, teils Bewunderung, teils Nachahmungsneugier, teils Eifersucht, also unbedingt in angenehmster Erregung. Und Keiner und Keine kümmert sich drum, daß durch solche Schauspielkunst nicht der Erdgeist, wohl aber der Begriff Talmi inkarniert wird. Die Zugkraft arbeitet unaufhörlich. Der kleinste Satz hat für sie drei Höhepunkte; in manchem wird jedes Wort hochgepufft. [...] Die Zorn-, Krampf- und Verzweiflungstechnik funktioniert wie ein Mechanismus, und umso geschmierter, als diese Utensilien der Leidenschaft mit Wedekinds Lulu gar nichts zu tun haben. Und die Fingerchen krallen sich, weil wir ja doch ein Raubtier sind, und die Rampe ist dazu da, daß man an ihr entlangfegt. Und ich bin am Rand meines Atems und meiner Verpflichtung, hier zu sagen, wer Dame Orska ist. Wer ist sie? Die Schauspielerin für die Kriegslieferanten."
(Siegfried Jacobsohn: Der Fall Orska. Das Jahr der Bühne, Bd. 6, 1916/17, S. 122f.)
Zur Inszenierung am Theater in der Königgrätzerstraße, Berlin, 4.11.1916. Regie: Rudolf Bernauer.