„Ein Hauch schwebt über diesem Werk eines Leichtsinnigen, Torkelnden, Schludernden; ein Hauch, der die Grundmauern des Daseins anweht; Faustulus und Gretelchen; es sind kleine Faustusse der Pubertät, die hier erobern und schuldig werden und dennoch schuldlos untergehen. [...]
Skurile und lyrische Vettern und Basen sind alle der dunklen, dahingegangenen Hedwig Ekdal; Hedwig sollte nur ein Tier schlachten, eine Wildente, um einen Vater zu retten [...]. Bei Wedekind, der in mattbunten Farben das Dasein zeichnet, wird kein ethisches Opfer gebracht, nur das ungewollte des eigenen Lebens um des grünen, schwärenden, geheimnisvollen Sinnendranges willen."
(Alfred Kerr: "Frühlings Erwachen". Der Tag (Berlin), 23.11.1906)
Zur Uraufführung an den Kammerspielen, Berlin, 20.11.1906. Regie: Max Reinhardt.
„[...] das ist die Besonderheit dieser grausamen Tragödie: daß Kinder, ohne Verschulden ihrer Seele, ohne pathetische Leidenschaften, ohne Herzenskonflikte, einzig durch ihr Da-Sein, ihr Werden, ihre körperliche Entwicklung um Glück und Leben kommen. Ehe sie das tiefe Geheimnis gelichtet haben, auf welche Weise sie in diesen Strudel hineingeraten sind, hat sie der Strudel schon verschlungen.
Das ist die Idee von ‚Frühlings Erwachen'. Sie müßte am leichtesten gerade dann zu entdecken sein, wenn sie den künstlerischen Körper nicht gewonnen hätte, den man um sie vermißt. Dieses Drama soll gewollt, aber nicht gekonnt, geredet und nicht gestaltet sein. Da ist es immerhin merkwürdig, warum Wedekind nicht auch jene seine besondere Idee so deutlich ausgesprochen hat, daß sie mehr als zwei seiner Kritiker nachsprechen können. [...] Es ist der Ton unsrer Sturm-und-Drang-Dramatiker und ihrer britischen Vorbilder, Christopher Marlowes und des jungen Shakespeare. Es ist ihr Ton, und es ist ihre Technik. Ein Chaos von schnellen Szenen, die scheinbar auseinanderflattern und doch mit zielsicherer Schlagkraft vorwärts drängen. Bis zum Schluß des zweiten Akts keine, die nicht dem Ganzen diente, nicht der Katastrophe zutriebe. Wer die Vielheit und Knappheit dieser Szenen rügt, hätte vermutlich auch den jungen Goethe hart angelassen: 'Trüber Tag. Feld' wäre ihm als Unding, die folgende Szene von sechs Zeilen als Verbrechen erschienen. Der innere Zusammenhang entscheidet, und der ist hier lückenlos gewahrt. Nicht genug: es gibt gar keine Technik, die der Darstellung jener Zeit des Vibrierens und Träumens, des Aufschreckens und Erzitterns, des Knospens und Aufspringens besser taugte als diese. Ein allgemeingültiges tragisches Weltbild hat seinen spezifischen dramatischen Ausdruck gefunden.
(Siegfried Jacobsohn: Frühlings Erwachen. Die Schaubühne 2, 1906, Bd. 2, S. 527ff.)
Zur Uraufführung an den Kammerspielen, Berlin, 20.11.1906. Regie: Max Reinhardt.
„[...] zu leicht geschieht es dem Zuschauer, nur die amusante Unordnung dabei wahrzunehmen und nicht den Umstand, daß hier ein Blick geworfen wird auf die Dinge, wie sie in der Tiefe sind, vor aller Ordnung. Eben dies 'vor aller Ordnung' ist aber der Zauber am Thema vom Frühlingserwachen: daß wir, selbst in Bildern des alltäglichsten Lebens, noch am Rande solcher Tiefe stehen, wo so Vieles noch ungeschieden liegt, mit allen seinen Möglichkeiten, seinen Ansätzen zu Thier und Engel und Unhold und Geist, das ganze Menschheitbild im Keim und deshalb in jedem Einzelnen Unschuld und Schicksal."
(Lou Andreas-Salomé: Frühlings Erwachen. Die Zukunft 15, 1907, Bd. 58, S. 97ff.)
Zur Uraufführung an den Kammerspielen, Berlin, 20.11.1906. Regie: Max Reinhardt.
„Die Aufführung hatte den Charakter der Kindertragödie sicher erfaßt, sie nahm ihr die schwere Brutalität der Wirklichkeit durch primitiv gemalte Frühlingsstimmungen, die ganz in der Fläche der Prospekte blieben. Die Dekoration wollte farbig, nicht körperlich sein."
(Arthur Eloesser: Kammerspiele des Deutschen Theaters. Vossische Zeitung (Berlin), Nr. 550 v. 24.11.1906)
Zur Uraufführung an den Kammerspielen, Berlin, 20.11.1906. Regie: Max Reinhardt.
„Glücklicherweise ist nicht die satirische Posse des Alters das Zentrum der Dichtung, sondern die lyrische Tragödie der Jugend. Ihr blieb man wenig schuldig. Für ihre dramatische Schwungkraft sorgte das Tempo, das in jeder Szene eingehalten wurde und in der Folge der Szenen, dank der Drehbühne, eingehalten werden konnte. Ihre Poesie ging einmal von den Walserschen Bildern aus, [...] vor allem aber von dem Talent und der Jugend einer Anzahl verschiedenartiger Schauspieler, von denen die einen das Talent, andre die Jugend und die dritten beides hatten. [...] Zwischen Eltern und Kinder tritt das lockende Leben, das erste Mal tänzelnd in einer virtuosen Mädchengestalt der Eysoldt, das zweite Mal vermummt in der unheimlichen Männergestalt Frank Wedekinds, der ganz den Ton, aber ganz und garnicht den Wortlaut seiner Rolle hatte. Melchi Gabor ergibt sich dem Leben, Moritz Stiefel hält ihm stand und wählt den Tod. Dieser Unterschied durfte nicht verwischt werden und wurde verwischt. Herrn von Jacobis Melchi war zwar jung, aber es hinderte ihn nichts in seinem Naturell, das Los seines Freundes Moritz zu erleiden, das Grab mit seiner Freundin Wendla zu teilen. Diese beiden, Moritz und Wendla, waren und sind die schauspielerische Schönheit der Vorstellung. [...] Man genießt denn auch dankbarst die unendliche Feinheit, mit der Fräulein Camilla Eibenschütz jedem Wort und jeder Situation, sei sie heiter, sei sie ernst, zu ihrem Recht hilft; den verschwenderischen Reichtum von Charakterzügen und Stimmmodulationen, die Alexander Moissi für seinen Moritz zu Gebote stehen. Was aber über alle Kunst, liegt in dem menschlichen Wesen der beiden beschlossen und wird erschütternd fühlbar in ihrem Blick, in ihrem Gang, in diesen scheuen, herben, keuschen, sehnsüchtigen Bewegungen schicksalgezeichneter Menschenkinder. Wendla nachtwandelnd im Garten und krank im Bett, Moritz kurz vor dem Tode und in seinem Grab - in dieser Darstellung bedürfte es eigentlich nur dieser vier Szenen, um die Tragik von ‚Frühlings Erwachen' von Grund aus zu erschöpfen."
(Siegfried Jacobsohn: Von Brahm und Reinhardt. Die Schaubühne 2, 1906, Bd. 2, S. 564f.)
Zur Uraufführung an den Kammerspielen, Berlin, 20.11.1906. Regie: Max Reinhardt.
„[...] Max Reinhardt führte selbst die Regie und stimmte die von Karl Walser entworfenen Bühnenbilder, im Geiste der Dichtung vollendet, zu einer Kleinstadtwelt zusammen, in der die sonnigen Wiesen draußen vor der Mauer, der Fluß mit den Weiden und Königskerzen, der abendliche Wald wehmüthig contrastierten gegen die engen, spießbürgerlichen Stuben, die niedrigen Decken und kahlen Möbel. Hinreißend frisch kam zu Beginn das Gespiel und Getummel der Kinder heraus, ihr noch glückseliges Lachen, Streiten, Tuscheln und Schwärmen. Ein kunstreiches Zerrbild, wie von der Hand eines Th. Th. Heine stilisiert, war die Lehrerconferenz, die an ihrem grünen Tische, gleich einem Haufen Ungeziefer übereinander hockend, vom fauchenden Rector überragt, vor der grau getünchten Wand sich abhob. Lumpig und unmanierlich stellten sie jenen Typus des deutschen Oberlehrers dar, den nachmals Otto Ernst, Max Dreyer und Holz-Jerschke und im Roman namentlich die Gebrüder Mann noch häufig, aber nie mit knapperem Witz verwerthet haben. Die Darsteller der Kinderrollen mußten naturgemäß auf einen überzeugenden Eindruck der körperlichen Erscheinung verzichten. Die Mädchen erschienen stellenweise doch schon ein wenig zu üppig, die Knaben in ihren kurzen Höschen zu breit und muskulös, vor Allem zu männlich in der Stimme. Störend trat dieser Mangel nirgends hervor, da die Wiedergabe der kindlichen Allüren durchweg vortrefflich gelang. Bernhard von Jacobi als Melchior und Alexander Moissi als Moritz gaben einander nichts nach in dem Ausdruck knabenhafter Schwermuth, den Jacobi durch eine kühne, gesammelte Energie, Moissi durch eine rührende Rathlosigkeit zu vertiefen wußte. Camilla Eibenschütz sah als Wendla entzückend aus, kokettirte in echter Kindlichkeit und sprach ihre flehenden Fragen nach dem Räthsel der Geburt nicht weniger zu Herzen als im Krankenbette die verzweifelten nach den Gründen ihrer 'Bleichsucht'. In kleineren Rollen glänzten, wie nicht anders zu erwarten, Gertrud Eysoldt, die eine lebensfrohe Dirne mit frühreif zappelnder Lüsternheit und göttlicher Frechheit ausstattete, sowie Hedwig Wangel in einem Wort für Wort durchdachten Spiel als gütige, nur halb verständnißvolle Mutter. Wedekind selbst sprach den vermummten Herrn der letzten Scene. Er sprach ihn, fast bewegungslos, scharf und kühl accentuirend, als strenger Chorus."
(Kurt Martens: Wedekind bei Reinhardt. Die Gegenwart 35, 1906, Bd. 70, S. 340f.)
Zur Uraufführung an den Kammerspielen, Berlin, 20.11.1906. Regie: Max Reinhardt.
„Nach der Berliner Aufführung des Werkes ging ein Ton der Ergriffenheit durch die deutsche Kritik. Es war wie eine Abbitte an den Dichter. Die Verstocktesten gingen in sich, dickfellige Zeitungsschreiber waren erschüttert, hartnäckiger Unverstand beugte sich vor der Größe dieses Werkes. [...] Jeder empfand die Reinheit, die hier mit wehen und anklagenden Lauten aus den unschuldig obscönen Reden gewaltsam verdorbener Knaben spricht, den holden Hauch von Schwermut, der hier um tragisch versinkende Kinderhäupter webt, die süße Bitternis des Frühlings, dem junge Menschen zum Opfer fallen, jeder empfand sein eigenstes frühes Weh, wenn er sah, wie hier verzweifelte Kinder zu unsauberen Werkzeugen greifen, um an verschlossenen Pforten zu rütteln, an die sie der Drang des Blutes getrieben hat, jeder zitterte mit bei dem großen, heiligen Haß, der hier in dem wilden Herzen eines Schöpfers lebendig war, als er die Jugenderzieher und Lehrer zu grotesken Untieren knetete, und bei dem Kirchhofsspuk und den Worten des 'vermummten Herrn', aus denen ein bitterer Trost zu quellen scheint. Auch die Münchener Aufführung ergriff die Vorurteilsvollen."
(Hans Brandenburg: Hanns von Gumppenberg muß entfernt werden. München-Schwabing 1907, S. 6f.)
Zur Inszenierung am Schauspielhaus, München, 28.1.1907. Regie: Fritz Basil.