„Der Kritiker wird den rein ästhetischen Standpunkt in diesem Fall um so weniger einnehmen dürfen, als es sich nicht eigentlich um eine öffentliche, sondern um eine – der Censur nicht unterworfene – Subskriptionsvorstellung, also mehr um ein Experiment vor einem litterarisch interessierten Publikum handelte. Die zahlreichen, allerdings mehr genialischen als von echter Genialität eingegebenen Züge, die das Stück aufweist, der große Realismus mancher Szenen, der von einer tiefen Kenntnis der Nachtseiten des Lebens und zugleich von gereifterem dramatischen Geschick zeugt und, teilweise von packender Kraft, auch abgestumpfte Theaterbesucher hin und wieder zu vollkommener Illusion führt, dazu die auf das sorgfältigste durchgearbeitete, vollendete Wiedergabe, ließen das Experiment ohne Zweifel als gerechtfertigt und dankenswert erscheinen.“
(Theodor Hampe: Nürnberg. „Lulu“. Dramatische Dichtung in 2 Teilen. II. Teil: „Die Büchse der Pandora“. Tragödie in drei Akten. Das litterarische Echo 6, 1903/04, Sp. 804f.)
Zur Uraufführung am Intimen Theater, Nürnberg, 1.2.1904. Regie: Robert Soltau.
„[...] Szenen wie die zwischen Alwa und Lulu im ersten, zwischen Casti Piani und Lulu im zweiten und vor allem jene im letzten Akt, in der die Geschwitz mit Lulus Porträt in das Londoner Elend hineinplatzt, hat ein anderer deutscher Dramatiker mit kunstvollster Stimmungstechnik nicht zustande gebracht. Hier, besonders im dritten Akt, hat die Hand eines neuen Shakespeare den tiefsten Griff in das Menscheninnerste getan. Grotesk wie das Leben selbst ist diese Abwechslung clownhafter und tragischer Wirkungen bis zur Möglichkeit, beim Stiefelanziehen von stärkster Erschütterung durchwühlt zu sein.“
(Karl Kraus: Die Büchse der Pandora. Als Einleitung zu der Aufführung am 29.Mai 1905 gesprochen. Die Fackel 7, 1905, Nr.182, S. 2ff.)
Zur Inszenierung am Trianon-Theater, Wien, 29.5.1905. Regie: Albert Heine.
Wedekind „bedient sich [...] nicht der umständlichen Milieuschilderung. Er bietet vielmehr Silhouetten, scharfumrissene Silhouetten, die wie ein böser Traum unser Innerstes aufwühlen und uns Themen ethisch durchzuarbeiten zwingen, über die wir sonst nachtwandlerisch hinwegzuhuschen pflegen. Es steckt eine unheimliche Stimmungskraft in der scheinbar kunstlosen Art, wie Wedekind Erlebnisse aneinanderreiht und die weiblichen Geschlechtsinstinkte bloßlegt und an den Rand des letzten Abgrundes führt, und wenn [...] Jack der Aufschlitzer erscheint, dann schwindet jegliches Empfinden von einem zynischen Witz, und man wähnt die Schauer eines jüngsten Gerichtes zu erleben. Man kann den 'Erdgeist' sittlich und literarisch nicht richtig einschätzen, wenn man die ‚Büchse der Pandora' nicht gesehen hat.“
(Theodor Antropp: Eine § 2-Vorstellung. Wiener Deutsches Tagblatt, 31.5.1905)
Zur Inszenierung am Trianontheater, Wien, 29.5.1905.
„Die gestrige Aufführung war in jeder Beziehung ausgezeichnet. Regie, Darstellung, Ausstattung: alles war von möglichster Vollendung und es läßt sich kaum denken, daß die Tragödie jemals in ihrer Gesamtheit besser inszeniert und gespielt werden könnte. [...] Und so ist denn heute endlich auch ein größerer Kreis von Zuschauern so weit, wie es vor Jahren schon ein kleines Häuflein war: daß er nämlich das künstlerisch Bedeutsame und Wertvolle auch dieses zweiten Luludramas klar zu erkennen und das Tragische in ihm in seiner ganzen Wucht zu empfinden vermag.“
(Richard Braungart: Die Büchse der Pandora. [...] Aufführung des Neuen Vereins im Künstlertheater. Münchener Zeitung, 9.11.1910)
Zur Inszenierung am Künstlertheater, München, 8.11.1910. Regie: Albert Steinrück.
„Ich denke das Ganze ... witternd und zerfeint. Eine Phantasma-Kunst. Mehr flimmrig als wirklich.
Gaukeln und Halbtierwahnsinn; geiles Licht und verhangene Schädelstätten; Tupfen, Meckerrhythmen, kalte Zuckakte; Menschenrufe, Menschenrufe; ... (und die Posaunen des Untergangs).
Hinterher, wenn alles geschlachtet ist, etwas wie ein Scheideklang an die Schönheit ... Das Nachhallen an Eine, die nun ein duftender Fetzen ist ... Der unaussprechliche Gruß: Sie sei, wie sie wolle, sie war doch so schön ...“
(Alfred Kerr: Die Büchse der Pandora. Die Neue Rundschau 22, 1911, Bd. 2, S. 1031).
Zum Gastspiel des Münchener Neuen Vereins durch das Moderne Theater (im Hebbeltheater), Berlin, 20.5.1911. Regie: Albert Steinrück.
„Der pragmatische Inhalt, der einen Absturz darstellt, gibt der 'Büchse der Pandora' ihren balladesken Charakter. Die drei Akte sind wie drei Strophen, die keiner knapper, schauerlicher und skuriller dichten könnte wie Wedekind, wenn es ihm nicht gefallen hätte, eben drei Akte daraus zu machen. Sind diese Akte deshalb leer? Schon der Wechsel der Länder, der Schichten und der Typen bewahrt sie vor Monotonie. [...] Diese Scheindialoge bezeugen viel stechender und brennender die Einsamkeit, die Ausgeliefertheit, die Armseligkeit aller Kreatur als der Monolog, in dem die Geschwitz vor ihrem Tode davon redet. Freilich darf man weder in dieser Unterhaltungen noch in der Verkettung der Ereignisse eine reale Glaubhaftigkeit suchen, auf die der Dichter pfeift. [...]
London. Dachkammer. [...] Hier wagt Wedekind alles; auch künstlerisch. Er setzt auf Handgreiflichkeiten, die für sich selbst am besten sprächen, philosophische Maximen und resignierte Tröstungen. Er jagt das Gekreisch der Burleske und das Gejammer um ein verlorenes Leben hintereinander her. Er bemitleidet seine Geschöpfe und läßt sie selbst sich in einem Atem bemitleiden, bespeien und verlachen. Zur ekelhaften Fratze vergrinst, peitscht der eine Urtrieb den andern auf, ihm zu dienen. Die Schleusen öffnen sich und hervor bricht qualmend, gurgelnd, tosend und stinkend eine Flut, die verwüsten und befruchten wird. Es ist wie das jüngste Gericht, ein Sinnbild zugleich des barbarisch, aber auch idyllisch fessellosen Anfangs und der Entfesselung, aber auch der Versöhnung des letzten Endes. Lulu war Mensch, wurde durch Menschen zum Tier, wird, da sie Jack auf den ersten Blick liebt, noch einmal zum Menschen und wird von ihm wie ein Tier zerfleischt. Aber bis zur Todesstunde ist ihr die Geschwitz nah, von der sie im reinsten und am unreinsten geliebt worden ist. ‚Bleibe dir nah' - das ist vor der Höllenfahrt dieser Geschwitz ihr letzter Seufzer, der auch in Goethes Faust-Himmel gesungen werden könnte. Ist Lulu gerichtet? Sie ist gerettet."
(Siegfried Jacobsohn: Die Büchse der Pandora. Die Schaubühne 7, 1911, Bd. 1, S. 565ff.)
Zum Gastspiel des Münchener Neuen Vereins durch das Moderne Theater Berlin (im Hebbeltheater), Berlin, 20.5.1911. Regie: Albert Steinrück.
„Müssen wir es dulden, daß man ein unvergängliches Werk von der Bühne fern hält und Tausende um ein höchstes künstlerisches Gut prellt? Tatbestände? Sie bedeuten nichts, und Hunderte kitzelnde, lüsterne Abende werden immerzu von der Zensur toleriert. Hier aber ist ein Werk, das auf eine fast noch niemals erschaute Art tugendhaft ist. Ein moralisches, sinnenfeindliches Exerzitium, wie aus der Seele eines mittelalterlichen Kirchenvaters geboren. Freilich, dieser Kirchenvater ist auch ein moderner Künstler, hat eine vielfältige, zerrissene Seele, und er schreitet mit uns viele Höllen durch. Dennoch, hier ist kein Prickeln und kein Blinzeln, sondern nur ein unentrinnbarer Ernst. Die Polizei könnte sich noch so anstrengen, denoch würde es keinem der verdientesten Polizeiräte je gelingen, in zwei Stunden derart von der Sünde abzuschrecken und zur Tugend anzuleiten, wie dies Wedekind vermag. [...]
Lulu ... Sie hat viele Namen, ein jeder ihrer Liebhaber nennt sie anders, sieht sie auch anders, einem jeden ist sie die Verkörperung seiner Sehnsucht, und sie alle tragen ihre verborgensten Gelüste in ihr Wesen. Sie aber hat nur ein einziges Gesicht; so schrecklich und tödlich, daß keiner von ihnen es sich nur vorzustellen vermag. [...] Lange Gespräche die auf eine seltsam erschütternde Art Monologe sind, und beklemmend legt es sich aufs Herz, wie wir Menschen doch stets einsam sind, in einem entsetzlichen Alleinsein, und daß wir nur deshalb Freundschaft und Liebe erfunden haben, um jene eiskalte Isolierung nicht zu ahnen. Und noch Eines wird uns aus den abgerissenen Reden der Liebesbande um Lulu klar: Daß jene über ihre Einzelexistenz hinausragen, ein jeder in sich die Gefühlswelt einer ganzen Menschengattung faßt, grotesk kondensiert, Extrakte von Leidenschaft, Rohheit oder Kraftlosigkeit. Sie alle sind aber nichts ohne Lulu, denken keinen Gedanken, der nicht sie wäre [...].
Die Tollheit der Gier stirbt an der Tollheit der Gier, die Verbrecherin der Liebe am Wahnsinn der Liebe. Das grauenhafte Ende schmeckt dennoch nicht nach Sensation, es ist darin der tiefe Sinn der Natur, die sich eines giftigen Tieres bedient, um ein anderes giftiges Tier auszutilgen. Wie eine schillernde Schlange im Tropenwald schien Lulu, alles strotzende Leben um sie war ihr als Beute gegeben."
(Ludwig Bauer: Die Büchse der Pandora. Die Zeit (Wien), 18.2.1913)
Zur Inszenierung an der Neuen Bühne, Wien, 17.2.1913. Leitung: Emil Geyer.